Bundesfeier 2024 – Festrede von Daniel Fueter

Liebe Festgemeinde

Schlechten Gewissens unterbreche ich die familiäre Fröhlichkeit mit einer Ansprache, die auch Unerfreuliches anspricht. Die finsteren Zeiten fordern ihren Tribut. Die gute Nachricht: Die zehn Minuten Redezeit werden eingehalten. Zwischenrufe nicht einberechnet. Und dann wieder Tanz und Wurst und schönes Zusammensein. Ich hoffe auf Ihr Wohlwollen.

Liebe Ober- und Untersträsslerinnen und -strässler,

Danke Ihnen allen und insbesondere Claudia Frey-Heim und Andreas Aeschlimann und den beiden Quartiervereinen, dass ich, ein Musiker, heute im Rahmen der Bundesfeier zu Ihnen reden darf. In der Anfrage wurde ich als «eingefleischter Obersträssler» bezeichnet. Das hat seine Richtigkeit. Ich habe die Schulzeit und das letzte Vierteljahrhundert in Oberstrass gewohnt. Mehr als die Hälfte meines Lebens. Der Stadt Zürich habe ich lebenslang die Treue gehalten abgesehen von einer dreijährigen Auslandseskapade in Zollikon.

Ich bin mir nicht sicher, ob ein Grossvater für ein vaterländisches Fest die geeignete Besetzung sei. Wenn schon wäre eine Grossmutter Helvetia passender. Oder noch besser: eine Enkelin. Ich hätte da zwei aussergewöhnliche Rednerinnen zu bieten gehabt. Apropos Mutter Helvetia und Vaterland. Meine «Muttersprache» wäre das Französische. Es ist erstaunlich, dass das Risikoprojekt Schweiz es bislang geschafft hat, diverse Sprachen und Kulturen unter einen Hut ­– und es ist kein Gesslerhut – zu bringen. Unser Erfolg basiert auf Diversität. So viel zur 10-Millionen-Schweiz und zum ESC. Wenn ich die deutsche Hochsprache nutze, dann unter anderem, weil ich Schiller zitieren werde. Aus seinem Wilhelm Tell. Das ist nicht originell – immerhin ein schlechter Reim! – aber ich legitimiere mich damit als Festredner. Mit 14 Jahren nämlich, 1963, durfte ich im Schauspielhaus den Walterli, den Sohn des Wilhelm Tell, geben. Als gymnasiales Milchbüebli war ich eine eklatante Fehlbesetzung.

Das ändert nichts daran, dass ich vor über 700 Jahren dem Rütli vermutlich näher war als alle hier im Rund. Und moderne Geschichtsschreibung hin oder her: der Rütlischwur hallt in mir nach:  «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr. / Wir wollen frei sein wie die Väter waren.» Was die Brüder und Väter angeht, liebe Schwestern und Mütter, wollen wir mit Schiller heute gnädig sein. Am Ende des Stücks reicht Bertha von Brunegg – ein Expat – ihrem Bräutigam Rudenz die Hand: «die freie Schweizerin dem freien Mann.» Schiller spricht von einer anderen Freiheit als viele, die das Wort in diesen Tagen rasch auf der Zunge haben. 

Heute wird Meinungsfreiheit beansprucht, um Hassbotschaften und Lügen zu verbreiten. Mir steht es frei, zu sagen, was und wie ich es will. Ich sehe meine Freiheit bedroht, wenn die Klimakatastrophe Einschränkungen erfordert. Das Mass der Dinge ist meine Befindlichkeit. Wenn ein Schweizer Parlamentarier den Sturm aufs amerikanische Capitol in einer Suisse-en-miniature-Variante im Bundestreppenhaus nachspielt, beruft er sich auf seine parlamentarische Freiheit und sein Kollege nimmt sich die Redefreiheit, einen Polizeibeamten als potentiellen Nazimitläufer zu diffamieren.

Zu tun und zu lassen, was man will, solange man mächtig genug ist, es durchzusetzen, bedeutet nicht Freiheit, sondern Willkür. Gessler war so frei, den Apfelschuss anzuordnen. (Ich war damals mutig. Den vom Pfeil durchbohrten Apfel hatte der Requisiteur hinter meinem Marterpfahl bereitgelegt.)

Das Wort «frei» hat, wie die Sprachforscher uns lehren, gemeinsame Wurzeln mit dem Wort «lieb». Ich bin frei, weil ich zu denen gehöre, die mir nahe sind. «Wir wollen frei sein» lässt Schiller die Landleute schwören. Die Sätze «Wir wollen sein ein einzig Volk» und «in keiner Not uns trennen» gehören auch zum Schwur. Der Slogan der französischen Revolution, der heute die Erklärung der Menschenrechte ziert, klingt nach: Liberté, égalité, fraternité – Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Freiheit setzt Verhältnisse voraus, in denen nicht nur die Mächtigen ihre Ansprüche geltend machen können. Es geht um Chancengleichheit – im weitesten Sinn. Und: Das Gemeinwohl setzt der Freiheit Grenzen: Solidarität. Diese Freiheit feiert Schiller. Diese Freiheit feiern wir heute.

Ich gehe vom Theater Rigiblick an unserer Mietwohnung an der Hadlaubstrasse vorbei. Ich komme in die Letzistrasse. Wenn ich mir die Asphaltschneise wegdenke, bin ich in einem riesigen Garten, in dem zufällig ein paar Häuser stehen. Ich gehe der Riedtlisiedlung entlang und erinnere mich an Freundinnen, die da glücklich aufgewachsen sind. Über die Stolzewiese, auf der ich in meiner Jugend begeistert und miserabel Fussball spielte, komme ich zur Ottikerstrasse. Ich staune über das Ensemble von Fassaden aus dem Fin de Siècle. Ich halte rechts, schaue bei der Röslischüür vorbei (hier war das Konzert mit der wunderbaren Marianne Racine) und lande auf einer Parkbank im Schindlergut. Zurück über den Milchbuck in den grandiosen Irchelpark. Jetzt stehe ich da und geniesse meine Redefreiheit. Es ist verwöhnend, im Kreis 6 zu wohnen.

Ich habe viele Gründe dankbar zu sein. Ich gehöre zur verwöhntesten Generation, die je hier lebte.  Unserer Dankbarkeit gilt auch das Fest am 1. August und damit der Erinnerung an die Anfänge, ans sagenhafte Rütli. Natürlich wissen wir, dass unser Wohlstand seine Wurzeln nicht nur in unserm Fleiss hat, sondern wesentlich genährt wird und wurde, durch jene, die daran nicht teilhaben. Dass diese Teilhabe umfassend werde, ist ein in unserer Verfassung formuliertes Ziel. Da steht, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen. Frei sein, bedeutet Verantwortung tragen, nicht allein für das eigene Wohlergehen, sondern auch für den kranken Nachbarn, wie es im Mond-Lied des Dichters Matthias Claudius heisst.

Womit ich bei der Musik wäre, bei meinem beruflichen Alltag. Meine Arbeit gehört, wie ich es sehe, zum Service public, unserer Grundversorgung. Natürlich ist unter diesem Stichwort zuerst vom Verkehr die Rede, von der Post, vom Abfuhrwesen, aber auch von Bildung und Kultur. Der Service public ist es, der den Spaziergang durch den Kreis 6 so wohlgefällig macht. Der Service public ist landesweit darüber hinaus der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Die Prämien, die wir für das öffentliche Radio und Fernsehen aufbringen sollen, stehen gegenwärtig zur Diskussion. Der wohlbekannte Ausspruch von Thomas Jefferson, Zeitgenosse Schillers, ist zu bedenken: Information ist die Währung der Demokratie. Bevor sie schwören, tauschen die Mannen auf dem Rütli Nachrichten aus. Information hat mit dem, was Influencerinnen und Influencer bieten, nichts zu tun.

Und (jetzt spricht der Musiker): auch die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Senders für den Erhalt der kulturellen Vielfalt, unabhängig vom Kommerz, ist ein Grund, weiterhin ins Portemonnaie zu greifen. Wer diese Vielfalt wegwünscht, wünscht sich unmündige, manipulierbare, einfältige Landsleute.

Ich trat selten am Fernsehen auf. Die Röslischüür und das Theater Rigiblick gaben mir Chancen. Auch wenn da nicht wie bei Taylor Swift die Erde bebte, denke ich, dass an diesen Häusern in der kleinen Freiheit an- und aufregende Erfahrungen möglich sind, dass Bilder aufleuchten, spannender als Selfies, dass Begegnungen stattfinden, welche kurz die Blasen platzen lassen, in denen wir uns gerne bewegen.

Vor elf Jahren spielte ich im Rigiblick in einem Stück von Urs Widmer einen ewig betrunkenen Barpianisten. Möglicherweise keine Fehlbesetzung. Daniel Rohr spielte einen konkursiten Banker, dem am Ende klar wird, dass ein neuer Dreizack die Welt regiert. Nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sondern Gier, Grössenwahn, Dummheit. Als regelmässiger Hörer der Radiosendung «Echo der Zeit» und Zeitungsleser, befürchte ich, dass dieser Befund über den Bühnenrand hinaus mehr und mehr auf die Wirklichkeit zutrifft.

Fotos: Joachim Aeschlimann

Nutzen wir unsere Freiheit, alles uns Mögliche dagegen zu unternehmen. Hier und jetzt. Freiheit ist ein Fundament unseres Menschseins, unseres Menschlich-Seins. Das festliche, solidarische Zusammensein unter uns allen, die wir uns heute gleichermassen als Quartierbewohnerinnen und -bewohner verstehen, erinnert daran. Besonders dann, wenn der Redner – fürs Casting ist er nicht verantwortlich – uns endlich den Nationalfeiertag frei und ungezwungen feiern lässt, was er hiermit mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit tut.